97 TIME AFTER TIME

Die Geschichte(n) mit Chet

Vor über einem halben Jahr habe ich ein Konzert besucht – so ziemlich das erste, bei dem ich seit Ausbruch der Pandemie war. Und da sich daraus nicht nur eine sehr schöne Bass-Begegnung, sondern auch (mindestens) eine erzählenswerte Geschichte ergab, will ich diese nun endlich mal aufschreiben. Let’s get lost – in time!

Drehen wir erstmal die Zeit zurück. Wir sind in der Mitte der 1980er, hier beginnt die Geschichte, und zwar in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven. Ich bin ungefähr 15 und verbringe neuerdings sehr viel Zeit auf meiner Bettkante, eine geliehene Konzertgitarre in den Händen. Wir sind also live beim Beginn meiner großen Gitarren- und Bass-Leidenschaft dabei. Gleichzeitig bewegt sich mein Vater, dessen unglaublich umfassender Plattensammlung ich viel zu verdanken habe, als Musikfan immer mehr in Richtung Jazz.

Ich mühe mich also oben unter der Dachschräge in meinem Zimmer, das noch ein bisschen Kinder-, aber doch schon ziemlich Jugendzimmer ist, mit Peter Bursch und ”Blowin‘ in the Wind” ab – während aus dem Wohnzimmer ganz andere Klänge mit großem Blue-Note-Anteil zu mir herauf wehen.

Almost Blue

Besonders oft erklingt in dieser Zeit Chet Bakers Live-Album ”Strollin’”, 1986 erschienen und mit einer sanft & cool vibrierenden Klang-Aura versehen. Ich hörte mit, zunehmend interessiert, und übte fleißig weiter ”Sloop John B.” und andere Pop- und Rock-Klassiker.

”Strollin’” wurde übrigens beim Jazz-Festival in Münster aufgezeichnet. Also in der Stadt, in der ich Jahre später erst studieren, und dann – mit Unterbrechungen – auch leben & arbeiten sollte. Letzteres bis heute. Was die erste merkwürdige biografische Verbindung durch Zeit und Raum zur Gegenwart in dieser an Merkwürdigkeiten nicht armen Geschichte ist.

Begleitet wurde Chat Baker bei dem Konzert in Münster nur von Gitarre (Philipp Catherine) und Bass (Jean-Louis Rassinfosse). Das traf bei mir einen Nerv – ich war damals zwar (noch) nicht Jazz-begeistert, aber ich fand den Sound und die besondere Atmosphäre des Konzerts total faszinierend. Als mein Vater mich dann 1987 fragte, ob ich mit zum Konzert von Chet Baker im Pumpwerk in Wilhelmshaven kommen möchte, sagte ich sofort ja.

Das Konzert war ein Erlebnis. Auch für einen jugendlichen Jazz-Neuling wie mich. Ich erinnere mich zwar nur an wenige Details, aber deutlich an sehr konzentriert spielende Musiker und ein sehr aufmerksames Publikum. Und daran, dass Chet Baker am Ende, vor oder nach den Zugaben, ein paar Sätze ins Mikro nuschelte, aber nicht gegen den tosenden Applaus ankam. Um dann frustriert sowas wie ”OK, you don’t wanna hear it …” zu sagen und abzutreten. Ich glaube, er wurde von seiner Band darauf aufmerksam gemacht, dass es ja nur unsere Begeisterung war, die ihn übertönte … Er war offensichtlich nicht besonders gut zurecht, sowohl physisch als auch psychisch. Etwas mehr als ein Jahr später lag er nach einem Sturz aus dem zweiten Stock tot vor einem Hotel in Amsterdam.

Milestones

Meine Geschichte ging weiter. Ich sah noch sehr viele namhafte Jazz- und Rockmusiker im Pumpwerk, entdeckte den E-Bass und später den Kontrabass für mich, gründete eine Band, strich im Streichorchester der Gymnasien Wilhelmshavens den Kontrabass und meinte das alles sehr ernst. Und hatte trotzdem meistens sehr viel Spaß dabei. Jazz interessierte mich, ich hörte viele Klassiker (stand inzwischen alles bei meinem Vater im Schrank), aber Bands wie die Talking Heads, The Who, Del Amitri und Lloyd Cole & The Commotions ließen mein Herz noch etwas höher schlagen.

Meine eigene Band war auf lokaler Ebene unerwartet erfolgreich, wir hatten sehr, sehr viele Auftritte in Stadt & Region und sehr, sehr viel Spaß dabei. Unsere Musik roch nicht mal ansatzweise nach Jazz; eine Zeit lang nannten wir unseren Sound ”Powerfolk”. Erstaunlich zutreffend, auch aus heutiger Perspektive.

Als ich mich also nach Abitur und Zivildienst Anfang der 90er nach einem Studienort umsah, der mir meine gewünschten Fächer bot und dabei nicht allzu weit weg von Wilhelmshaven war (die Auftritte gingen ja weiter), suchte ich mir Münster aus. Und war in meinen ersten Jahren dort tatsächlich auch einmal beim Jazz-Festival, es müsste 1993 gewesen sein.

Der Jazz begleitete mich also weiter, aber meistens nur als Fan und Hörer. Ich wollte ja nie Profi-Musiker werden, das war mir immer klar – wahrscheinlich, weil ich mich einfach nicht traute. Mein Leben bestand ja schon aus sehr viel Musik, und das dann auch als Lebensunterhalt zu machen, erschien mir wohl … einfach zu abenteuerlich, denke ich.

Und Abenteuer bot mir mein ”Irgendwas mit Medien”-Studium in Münster mit paralleler Band-Geschichte in Wilhelmshaven auch so schon genug. Vor allem lernte ich in dieser Zeit viele Menschen kennen, die mir bis heute sehr am Herzen liegen. Zu diesen gehörte damals auch Clau(dia).

Little Girl Blue

Clau und ich hatten Ende der 90er sogar mal eine kurzlebige gemeinsame Band, in der sie ein paar Stücke sang – auf der Hochzeit ihres Bruders 1999. Noch ein paar Jahre später spielte ich dann mit meiner münsterischen Outlaw-Country-Band BARN PAIN auf Claus Hochzeit im Sauerland. Dann verloren wir uns ein bisschen aus den Augen. Jetzt nochmal einen größeren Zeitsprung in die Gegenwart – und zu Claus Konzert-Einladung, die sie im Februar 2022 an mich schickte:

What??? Ich war (milde ausgedrückt) komplett überrascht – Clau singt in einer Jazz-Band? Ein Chet-Baker-Tributprogramm? Mit Patric Siewert am Bass??

Da ich mittlerweile meiner Gitarren- und Bass-Leidenschaft wieder in vollem Umfang nachging, hatte ich schon etliche Artikel über Patric gelesen, ein paar Videos gecheckt und ihn als einen der profiliertesten Jazz-E-Bassisten im Land abgespeichert.

Mein erstaunte Nachfrage ergab folgende Geschichte: Oliver Schroer ist nicht nur Jazz-Pianist, sondern auch Kirchenmusiker. Unter anderem in der Gemeinde in Bochum, in der Clau inzwischen Pastorin ist. Die beiden lernten sich näher und Clau dabei auch die Welt des Jazz kennen. Die beiden begannen, zusammen Musik zu machen. Die Idee zu einem Chet-Baker-Tributprogramm entstand. Die Einbeziehung von Patric Siewert ergab sich ganz natürlich, denn Oliver & er machen sowieso dauernd zusammen Musik. So ähnlich lief es, sehr kurz zusammengefasst.

How Long Has This Been Going On?

Ich ging dann natürlich zum Auftritt in Münster, was die erste Begegnung mit Clau seit vielen Jahren war. Das Konzert machte mir große Freude:

“A Tribute to Chet Baker” besteht sowohl aus rein instrumental gespielten Stücken als auch aus Stücken mit Gesang von Clau. Außerdem werden einige Texte vorgetragen, die Leben und Werk von Mr. Baker erzählen und illustrieren. Ich fand’s sehr gelungen, nicht nur musikalisch, auch konzeptionell. Eine kongeniale Würdigung einer der faszinierendsten (und auch tragischsten) Figuren der Jazzgeschichte. Und Matthias Beckmann an der Trompete fand genau den richtigen Ton dafür.

Über die brillant spielende Band war ich sowieso höchst erfreut. Alles Profis an ihren Instrumenten und vor allem so richtig durch und durch Jazzer. Ein Erlebnis. Was mich immer besonders beeindruckt, ist absolute Timing-Festigkeit auch ohne Drummer. Wenn ich für mich alleine spiele, muss ich mich oft sehr konzentrieren, um im Groove zu bleiben. Ich bin halt immer Band-Musiker im Bereich Rock/Pop/Folk/Blues/Country gewesen und habe dabei meistens einen kompetenten Schlagzeuger zur Seite gehabt, dessen Beat mich führte und mit dem ich zusammen grooven konnte (im besten Fall). Aber hier spielten alle ohne Schlagzeug oder sonstigen externen Beat zum ”Draufsetzen” immer absolut perfekt auf den Punkt zusammen – durch alle Breaks und rhythmischen Windungen hindurch. Geil.

Ich achtete natürlich vorrangig auf Patrics Bassspiel und war ziemlich hingerissen. Wahnsinns-Fretlesssound und perfekte Intonation, inspirierte Linien und wunderbar melodische Soli. Bei denen er oft, ganz der klassischer Jazzer, jede Note leise Mitsang:

Dobedobedobeee … dobedo!

Ähnlich kann man das in diesem Video von Patric hören:

Er spielt, wie man sieht (seht ihr doch, oder??), einen Worp von Bassline. Also aus der Schmiede, die mir die Teile für meinen Schraubbass gefertigt & geliefert hat. Schöner Zufall! Wir kamen nach dem Konzert auch noch ins Gespräch, das wir dann später beim Mittagessen mit der ganzen Band noch etwas vertiefen konnten. Ich erzählte dabei auch von meiner eigenen Baker-Begegnung in den 80ern in Wilhelmshaven.

Patric reihte sich außerdem nahtlos ein in die Reihe von äußerst sympathischen Profi-Bassisten, mit denen ich mich schon mal persönlich austauschen konnte. Und ein Selfie machen durfte. Bei bester Laune aller Beteiligten. 😉

Was für ein wundervolles Konzerterlebnis! Klar, ist jetzt schon ein paar Tage her (20. Februar 2022), aber dieses Jahr war mal wieder so viel los, dass Bloggen auf meiner To-Do-Liste etwas nach unten rutschte.

Doch es war eben ein besonderes Konzert. Was sich im weiteren Nachgang bestätigte. Denn ich berichtete natürlich meinem Vater von meinem Konzertbesuch. Und weil ich wusste, dass er sich damals oft Notizen zu Konzertbesuchen gemacht hat (z. B. mit Zetteln in LP- und CD-Covern), fragte ich ihn, ob er zufällig auch den genauen Termin des Chet-Baker-Konzerts im Pumpwerk irgendwo notiert habe.

Hatte er. Und schrieb zurück: ”Zufälle gibt’s. Es war der 20. Februar 1987.”

Also auf den Tag genau 35 Jahre vor dem Tribut-Konzert in Münster.

Um es mit der Reaktion von Clau zusammenzufassen, als ich ihr das berichtete: ”What?!?! Das ist wirklich unfassbar!!!“

Soweit also zu Zeit und Raum und den unvorhersehbaren Verwicklungen, Entwicklungen und Verbindungen, die sie schaffen.

Wobei: Eine Fußnote gibt’s noch dazu.

Time on My Hands

Denn am Wochenende darauf waren Freunde von uns zu Besuch bei uns, Andrea und Kai. Wir aßen zusammen & saßen schön beisammen und ich erzählte bei der Gelegenheit, dass ich gerade beim ersten Konzert nach langer Zeit gewesen war. Als ich dann kurz die Geschichte dahinter zusammenfasste und auch die (Vor-)Namen der Beteiligten nannte, runzelte Andrea die Stirn. Und fragte: ”Wie heißt denn dieser Oliver mit Nachnamen?”

Ja, genau: Sie kannte ihn. Sogar ganz gut. Die beiden waren rund 30 Jahre zuvor Teil der gleichen ”Clique”, wie man so schön sagte, in Oberhausen. Und Oliver war natürlich damals schon Jazz-begeisterter Pianist, was Andrea auf den Gedanken brachte: ”Moment: ein Oliver, Pianist, Jazz-Musiker, Großraum Oberhausen/Bochum, unsere Altersgruppe – den kenne ich doch!” 😉

Auch hier fasst die Reaktion von Clau, als ich über sie Grüße von Andrea an Oliver ausrichten ließ, die Sachlage sehr gut zusammen: ”Aber wirklich verrückt, oder? Diese Verzweigungen manchmal – unglaublich!”

Strollin‘

Dieser kleine Spaziergang durch Jazz, Zeit und Raum war eines der schöneren Erlebnisse 2022. Es gibt aber durchaus noch mehr zu schreiben – und ich sehe zu, dass ich das auch wieder etwas regelmäßiger mache. Also demnächst mehr an dieser Stelle. Über Musik, Bässe, Gitarren und das Leben – wie immer hier im Blog. Oder, wie Mr. Baker das vielleicht zusammenfassen würde: These Foolish Things.

Bis hoffentlich bald also – stay tuned!

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