99 TAUSEND PLÄNE

”The past is never dead. It’s not even past.”

Das Zitat ist berühmt. Aber so richtig verstanden habe ich es erst in den letzten Monaten. Denn da ist meine Vergangenheit plötzlich wieder höchst lebendig in mein Leben getreten – was mir bis heute große Freude macht. Das alles hat natürlich mit Musik zu tun. Und, ähnlich wie in den zuletzt hier berichteten Geschichten, mit der rätselhaften Macht des Internets, Zeit und Raum zu überbrücken.

Drehen wir das Rad also ein paar Jahrzehnte (!) zurück und fangen an: Es war einmal in Wilhelmshaven. Zu meiner musikalischen und instrumentalen Sozialisation dort habe ich kürzlich (jedenfalls in den zeitlichen Dimensionen dieses Blogs) bereits ein bisschen was geschrieben. Tatsächlich könnte ich Bücher füllen mit dem, was damals so los war in der ”Jadestadt” (die nichts, aber auch wirklich nichts mit einem Schmuckstein gemein hat) im Norden. Wo die Autobahn endet und die Nordsee anfängt, wie ich früher zu sagen pflegte. Aber nicht nur die. Es gab damals noch viel mehr, was anfing.

Ende der 1980er war ich bereits vielfältig musikalisch aktiv. Nach den Anfängen in der lokalen Ten-Sing-Gruppe hatte ich mit Andi und Knut meine erste eigene Band gegründet, Room Six. Ich fing an, eigene Songs zu schreiben. Außerdem nahm ich klassischen Kontrabass-Unterricht. Und wurde von meinem coolen, aber resoluten Lehrer beängstigend frühzeitig genötigt, beim ”Streichorchester der Gymnasien” vorstellig zu werden. Dessen einziger (und leicht überforderter) Kontrabassist ich dann für rund zwei Jahre war. Was tatsächlich nochmal reichlich Stoff für eine eigene Geschichte wäre.

Ziemlich viele Anfänge schon bis hierhin, oder?

Bewegte Zeiten

So 1989/90, relativ kurz vor dem Abitur, lernte ich über eine gemeinsame Bekannte (auch eine lange Geschichte) zwei Musiker kennen. Gleicher Jahrgang, andere Schule. Marc spielte Gitarre, und das beeindruckend gut. Jens spielte Keyboards, dito. Das erste Treffen habe ich zwar so in Erinnerung, dass man es heute wohl als ”awkward” labeln würde. Aber da kurze Zeit später das Telefon klingelte (Yep, Kinder das Telefon, und es klingelte analog, und sonst hatten wir ja auch nichts) und ich (mit meinem Bass) von den beiden zu einer Session eingeladen wurde, hatte es wohl doch irgendwie Klick gemacht zwischen uns.

Es war für mich das erste Mal, dass ich ”richtige” Musiker kennen lernte. Heute würde man ”Musik-Nerds” sagen. Also Menschen, die sich intensiv mit Musik, Musiktheorie, ihrem Instrument, instrumentaler ”Virtuosität” (diese alte, falsche Schlange) und Musiktechnik allgemein beschäftigten – so wie ich.

Andi und Knut (und später Sven) von meiner Band waren zwar keinesfalls weniger ”richtige” Musiker. Aber auf ganz andere Art: Wir verstanden uns musikalisch vor allem auf Song-Ebene hervorragend. Da galten alle gängigen Metaphern wie ”an einem Strang ziehen”, ”blind vertrauen” oder ”mehr als die Summe der Teile”. Ich spielte ihnen einen Song von mir vor – und sie wussten sofort, was ich meinte. Ich habe über die Jahre gelernt, dass so etwas nicht nur selten, sondern absolut außergewöhnlich ist (zu meiner großen Freude darf ich mit meiner jetzigen Band etwas Ähnliches erleben). Und wir waren damit auch jahrelang auf lokaler Ebene ziemlich erfolgreich.

Doch mit Jens und Marc waren Sachen drin, die mich musikalisch und instrumental ganz anders forderten. Jazz-Rock, Al Di Meola, Hendrix. Wir machten ein paar Aufnahmen, denn Jens hatte einen Vierspurrekorder (heiß begehrtes, teures Equipment damals), wobei sich die beiden auch noch als ziemlich fähige Schlagzeuger erwiesen (im Gegensatz zu mir). Ich erinnere mich an ein runtergekommenes, leerstehendes Gebäude in irgendeinem Gewerbegebiet. An einen Raum mit Eierkartons an den Wänden. Feuchte Luft, leichter Schimmelgeruch. Ein paar andere befreundete Musiker waren manchmal auch noch dabei, aber ich erinnere mich nicht mehr an alle.

Irgendwann klingelte dann schon wieder das Telefon. Bewegte Zeiten! Ein gewisser Holger wollte wissen, ob ich Lust habe, bei dem Bandprojekt mitzumachen, das er gerade auf die Beine stellte. Und Marc und Jens hätten mich als Bassisten empfohlen. Und die beiden seien auch dabei. Nur ein Schlagzeuger fehlte noch.

Room Six hatte gerade Pause – ich glaube, wir suchten gerade einen neuen Proberaum. Also brachte ich Knut ins Spiel. Andi war nicht amused, verständlicherweise.

Aber es sollte ja nur ein Projekt auf Zeit sein. Was es dann auch war. Wenn ich ich richtig erinnere, waren es die kompletten Osterferien 1990, die wir in in einem Gemeindehaus in Wilhelmshaven verbrachten, um Holgers Songs einzuüben.

”Praying for the Past”

Holger war großer Springsteen-Fan, das merkte man seinen eigenen Songs an, und den Cover-Songs in unserem Programm auch. Ich habe, wie ich letztens zufällig feststellte, die Mappe von damals noch im Schrank:

Ich denke, wir dürfen ruhig ein bisschen genauer hinschauen – ist ja lang genug her … 😉

v.l.n.r.: Knut, yours truly, Marc, Holger, Jens

Wir hatten tatsächlich einen gemeinsamen Auftritt – im Country Club in Wilhelmshaven. Auch eine eigene, geradezu unglaubliche Geschichte (”Bullenscheiße!”), aber man muss dabei gewesen sein. Beim zweiten Auftritt in der Ruscherei war Knut dann schon nicht mehr dabei, wenn ich mich recht erinnere. Room Six waren inzwischen wieder sehr aktiv geworden. Und dann machten wir alle Abi und Holgers Band war mehr oder weniger Geschichte. Aber eine ganz gute, finde ich immer noch.

Der Austausch mit Marc und Jens ging weiter, auf vielen Ebenen. Marc war einmal Session-Gast bei einer Probe von Room Six, davon gibt es sogar einen Mitschnitt. Ich ging mit ihm zu einem Konzert eines meiner Lieblingsgitarristen, Peter Finger, was Marc dazu inspirierte, ein Stück von ihm in seiner Abi-Prüfung vorzutragen. Jens engagierte mich am Bass für den Vortrag eines Jazz-Standards (”Don’t get around much anymore”) in der Ruscherei (auch eine Prüfung, wenn ich mich richtig erinnere) – und wir waren eine Zeit lang generell viel in Kontakt.

Später spielte Marc in ein paar Bands in Wilhelmshaven, mit Jens tauschte ich Tapes aus, ab und zu trafen wir uns irgendwo, zufällig oder geplant. Wilhelmshaven war damals zwar noch größer, aber immer noch übersichtlich. Dann war ich erst Zivi in Delmenhorst und später Studi in Münster, aber wegen der vielfältigen Aktivitäten von Room Six noch jahrelang (bis ca. 1995) am Wochenende regelmäßig in meiner Heimatstadt. Man lief sich manchmal noch über den Weg, meistens im legendären Palazzo. Irgendwann in diesen Jahren riss der Faden dann ab.

Zoom Forward. 30 Jahre.

Als ich letzten Herbst damit anfing, mein Heimstudio-Setup komplett umzubauen, fiel mir bei den Auf- und Umräumarbeiten ein Karton mit alten Kassetten in die Hände. Die hier war auch dabei:

”Das ist ja meine Handschrift”, kommentiere Jens, als ich ihn mit dem Tape konfrontierte.

Auf Seite A sind einige Aufnahmen, die ich damals mit Jens und Marc gemacht hatte. Jens hatte mir die Kassette zusammengestellt. Seite B hatte ich für Demos von Songs für Room Six genutzt. Speicherplatz war damals schon wertvoll.

Solche Zufallsfunde können bekanntlich zu schicksalhaften Wendungen führen und immens glücklich machen. Auch in diesem Fall.

Vom Gedanken ”Was macht Jens jetzt wohl so?” war es nicht weit zum nächsten Google-Fenster. Und, wer hätte das gedacht, Jens hat einen Account bei SoundCloud. In diesem fand ich einen Song für einen gewissen Holger. Den Jens erst ein Jahr zuvor zusammen mit Marc aufgenommen hatte.

Bingo! 

Nach den ersten Nachrichten über SoundCloud folgten E-Mails. Jens (inzwischen in Hannover wohnhaft) und ich tauschten uns darüber aus, was die vergangenen 30 (!!) Jahre so passiert war. Dann gab’s eine Chat-Gruppe, gemeinsam mit Marc (wieder in Wilhelmshaven) und Holger (irgendwo in Ostfriesland).

Und, oh Wunder, Jens & Marc waren musikalisch auch noch aktiv, überaus sogar, und verfügen über Heimstudios (in Marcs Fall wohl schon eher ein Studioheim), also alles ähnlich wie ich. Jens schlug vor, doch mal wieder was gemeinsam zu machen. Zum Glück war ich ja gerade im Umstieg von meinem alten, eher proprietären Studio-Setup hinzu Logic Pro. Dem Austausch von Files, Tracks & Songs stand also nichts im Wege.

Wir legten einfach mal los. Als hätten wir uns erst kürzlich zuletzt gesehen.

Tausend Pläne

Jens suchte sich einen Song aus meinen Demos aus, die ich in der Corona-Zeit produziert hatte, eigentlich als Demos für meine Band. Das war sogar der erste Song, den ich am Rechner (mit GarageBand) produziert hatte, noch mit eher schlechten Interfaces – um zu testen, wie ich mit diesem Produktionsweg klar komme. Der Song heißt ”Tausend Pläne”. Wer auf Vorher/Nachher-Effekte steht, kann sich hier das ursprüngliche Demo anhören.

Jens nahm sich die Tracks vor, programmierte neue Drums, spielte Keyboards (Orgel) & A-Gitarren ein, ich spielte den Bass neu ein und nahm die Vocals neu auf, Jens‘ Tochter Swenja fügte sehr stimmigen Background-Gesang hinzu – und am Ende veredelte Marc alles mit einer wahrhaft marcigen Sologitarre.

Ich war baff. Und äußerst entzückt. Wofür ich euch natürlich auch die Chance geben möchte:

Zauberhaft, oder? Wir haben uns dafür nicht ein einziges Mal getroffen, noch nicht mal telefoniert – wir haben einfach in unseren Studios in Hannover, Münster und Wilhelmshaven die Tracks aufgenommen und hin- und hergeschickt. Jens übernahm am Ende Mixing & Mastering. Meisterhaft.

Spell

Apropos zauberhaft: Jens schickte dann auch ein paar seiner Demos an mich, darunter eine Song-Idee namens ”Spell”. It caught my ear. Ich entwickelte in Absprache mit Jens einen deutschen Text, basierend auf seiner Grundidee, spielte den Bass ein und nahm den Gesang auf. Marc übernahm die Gitarrenparts und am Ende wurde alles von Jens wieder schön rund gemischt. Enjoy:

Die beiden Songs sind übrigens auch eine sehr gute Gelegenheit, meinen Schraub-Preci in Action zu erleben. In einem Fall ein bisschen angezerrt, im anderen schön tief und ausgewogen. Finde ich.

”The future is never dead. It’s very present!”

Das Ende der Geschichte: Es gibt kein Ende. Es gibt lauter neue Anfänge – wenn man es zulässt. Und sich ein bisschen Mühe gibt.

Ich freue mich jedenfalls sehr darüber, dass eine vor langer Zeit begonnen und beendet geglaubte Geschichte jetzt einfach so weitergegangen ist. Hatte ich am Anfang des Artikels geschrieben, das Internet könne Zeit und Raum überbrücken? Vielleicht stimmt das gar nicht. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer viel größeren (und älteren Macht) zu tun, die das vermag: mit der Musik.

Bald gibt’s neue Berichte & Geschichten an dieser Stelle – stay tuned!

98 THE STELZER

”I know nothing about this bass”

Das Netz ist unfassbar. Voll von Geschichten, Bildern und Begegnungen, die unser Verständnis von Rea- und Normalität auf immer wieder neue Weise herausfordern. Oder ist es genau andersherum? Ich weiß es nicht. Seit ich herausgefunden habe, dass ich in einer parallelen (?) Dimension richtiger Bassbauer und nicht nur schnöder -schrauber bin, zweifle ich an … an … an allem, was ich meinte, zu wissen zu glauben? Inklusive der grammatischen Korrektheit von Infinitivhäufungen am Satzende? Seufz. ”If only someone here were a native German speaker…” Und schon sind wir mittendrin in der ersten von drei geradezu un-glaub-lich-en Storys.

1) ”That is nice looking.”

Ich weiß nicht mehr, was ich gegoogelt hatte. Aber ich landete eines Tages im letzten Jahr auf dieser Forums-Seite:

Ich las, stutzte und staunte. Und verstand erst beim Lesen dieses Beitrags, was hier los war:

Offensichtlich eine Verwechslung. Meine Artikel über Oliver Barons ersten Helliver Bass-Prototypen (Teil 1, Teil 2, Teil 3) im Jahr 2019 waren irgendjemandem in den USA aufgefallen. Und dann sorgte die Sprachbarriere dafür, dass ich plötzlich als Erbauer des von mir eigentlich nur getesteten und vorgestellten Bassmodells galt, das an einer Stelle (s. o.) sogar folgerichtig (und irgendwie liebevoll) ”The Stelzer” getauft wurde.

Ist es zu fassen?

Auch Oliver, den ich darüber informierte, war äußerst erheitert. Doch als ich dann schrieb, ich müsse das dann wohl besser schnell mal aufklären – da meinte er ganz souverän: ”Och, lass doch einfach. Ist doch lustig!”

2) ”Hallo, Marleaux” revisited

Vor ein paar Jahren besuchte ich den Messestand von Marleaux auf der Hausmesse bei Musik Produktiv in Ibbenbüren. Wie ich da ins Gespräch mit Gerald Marleaux kam und wie geflasht ich davon war, kann man hier an anderer Stelle nachlesen.

Vor knapp zwei Jahren schrieb Marleaux einen Video-Wettbewerb aus, den ich unglaublicherweise gewann. Wie es dazu kam und wie geflasht ich davon war, kann man hier ebenfalls nachlesen (und es wird bald noch mehr dazu zu lesen geben, versprochen).

Vor einiger Zeit, so ca. Herbst 2022, besuchte ich dann mal wieder die Website von Marleaux, die gerade einen kompletten Relaunch hinter sich hatte.

Und, was strahlte mir direkt entgegen?

Genau, mein Bass! 😳

Und wenn man dann unter ”Instrumente” das Modell ”Consat” auswählt, sieht man ihn auch wieder – als Inbegriff dieser Modellreihe.

Das ist MEIN Bass:

😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊😊

3) Natürliche Ausrede

Twitter ist doof? Ja, mag sein. Aber Twitterinnen und Twitterer (oder sagt man ”Twitterende”? Oder ”Twittende”? Oder einfach ”Twitti” – das wäre doch schön, oder?) sind es oft nicht. Nicht alle, OK. Jedenfalls habe ich bei Twitter jemanden kennen gelernt (wir wissen beide nicht mehr, wann und warum), der allein schon Grund genug dafür wäre, dankbar für diese Plattform zu sein. Auch wenn wir uns inzwischen meistens nicht mehr via Twitter, sondern über Textnachrichten (aka SMS) austauschen. Inhaltlich oft über das, was er nebenberuflich im Netz Spannendes macht bzw. veröffentlicht. Und das fast jede Woche!

Die Rede ist von Christopher Braucks und seinem sehr, sehr empfehlenswerten Podcast ”Natürliche Ausrede”.

Im Dezember 2022 begab es sich, dass ich Christopher um fachmännischen Rat frug, was meinen Studio-Umbau anging. Ich suchte nach neuen 19″-Racks für meinen Studio-Schreibtisch. Er hatte tatsächlich viel mehr als einen guten Rat für mich: zwei perfekt in mein Beuteschema passende Racks im Keller, die er nicht mehr brauchte. Hurra!

Wir einigten uns schnell auf die üblichen Privatverkaufsmaufmodalitäten. Und dann bot Christopher sogar an, mir die Racks nach Münster zu bringen. Nochmal Hurra!

Bei der Gelegenheit begegneten wir uns zum ersten Mal persönlich, was eine noch größere Freude als der Business-Anlass unseres Treffens war. Die beiden Racks passten wirklich perfekt (nachdem ich das Holz ein bisschen aufgearbeitet und gepflegt hatte, sowas kann ich jetzt ja, übrigens mit dem gleichen Öl-Wachs-Finish wie meinen Schraub-Preci):

Ich freute mich sehr darüber, dass Chris mir die Racks extra nach Münster brachte. Und dachte mir: Was kann ich Chris dafür Gutes tun? Ich entschied mich dafür, ihm einen interessanten Gesprächspartner für seinen sehr, sehr empfehlenswerten Podcast zu vermitteln!

Da der gute Chris beruflich viel mit Musik und Musik-Equipment zu tun hat und ich ihn durch Twitter & seinen Podcast schon etwas kennen gelernt hatte, kam ich schnell auf den perfekten ”Match” in Münster für ihn. Die Terminfrage konnte schnell geklärt werden, ich führte Chris (nach einem gemeinsamen Burger-Lunch) noch an die Zieladresse – und der Rest ist Geschichte. Beziehungsweise eine sehr, sehr empfehlenswerte Podcast-Folge von ”Natürliche Ausrede”, die ich euch ganz besonders ans Herz legen möchte:

Ist das Netz nicht unfassbar? Ich hoffe, meine drei kleinen Geschichten haben euch ebenso erfreut wie mich.

Vielen Dank fürs Lesen & Klicken und bis bald (versprochen!) an dieser Stelle – mit mehr zu den beiden Dauerbrenner-Stichworten ”Baron” und ”Marleaux”. Stay tuned!

97 TIME AFTER TIME

Die Geschichte(n) mit Chet

Vor über einem halben Jahr habe ich ein Konzert besucht – so ziemlich das erste, bei dem ich seit Ausbruch der Pandemie war. Und da sich daraus nicht nur eine sehr schöne Bass-Begegnung, sondern auch (mindestens) eine erzählenswerte Geschichte ergab, will ich diese nun endlich mal aufschreiben. Let’s get lost – in time!

Drehen wir erstmal die Zeit zurück. Wir sind in der Mitte der 1980er, hier beginnt die Geschichte, und zwar in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven. Ich bin ungefähr 15 und verbringe neuerdings sehr viel Zeit auf meiner Bettkante, eine geliehene Konzertgitarre in den Händen. Wir sind also live beim Beginn meiner großen Gitarren- und Bass-Leidenschaft dabei. Gleichzeitig bewegt sich mein Vater, dessen unglaublich umfassender Plattensammlung ich viel zu verdanken habe, als Musikfan immer mehr in Richtung Jazz.

Ich mühe mich also oben unter der Dachschräge in meinem Zimmer, das noch ein bisschen Kinder-, aber doch schon ziemlich Jugendzimmer ist, mit Peter Bursch und ”Blowin‘ in the Wind” ab – während aus dem Wohnzimmer ganz andere Klänge mit großem Blue-Note-Anteil zu mir herauf wehen.

Almost Blue

Besonders oft erklingt in dieser Zeit Chet Bakers Live-Album ”Strollin’”, 1986 erschienen und mit einer sanft & cool vibrierenden Klang-Aura versehen. Ich hörte mit, zunehmend interessiert, und übte fleißig weiter ”Sloop John B.” und andere Pop- und Rock-Klassiker.

”Strollin’” wurde übrigens beim Jazz-Festival in Münster aufgezeichnet. Also in der Stadt, in der ich Jahre später erst studieren, und dann – mit Unterbrechungen – auch leben & arbeiten sollte. Letzteres bis heute. Was die erste merkwürdige biografische Verbindung durch Zeit und Raum zur Gegenwart in dieser an Merkwürdigkeiten nicht armen Geschichte ist.

Begleitet wurde Chat Baker bei dem Konzert in Münster nur von Gitarre (Philipp Catherine) und Bass (Jean-Louis Rassinfosse). Das traf bei mir einen Nerv – ich war damals zwar (noch) nicht Jazz-begeistert, aber ich fand den Sound und die besondere Atmosphäre des Konzerts total faszinierend. Als mein Vater mich dann 1987 fragte, ob ich mit zum Konzert von Chet Baker im Pumpwerk in Wilhelmshaven kommen möchte, sagte ich sofort ja.

Das Konzert war ein Erlebnis. Auch für einen jugendlichen Jazz-Neuling wie mich. Ich erinnere mich zwar nur an wenige Details, aber deutlich an sehr konzentriert spielende Musiker und ein sehr aufmerksames Publikum. Und daran, dass Chet Baker am Ende, vor oder nach den Zugaben, ein paar Sätze ins Mikro nuschelte, aber nicht gegen den tosenden Applaus ankam. Um dann frustriert sowas wie ”OK, you don’t wanna hear it …” zu sagen und abzutreten. Ich glaube, er wurde von seiner Band darauf aufmerksam gemacht, dass es ja nur unsere Begeisterung war, die ihn übertönte … Er war offensichtlich nicht besonders gut zurecht, sowohl physisch als auch psychisch. Etwas mehr als ein Jahr später lag er nach einem Sturz aus dem zweiten Stock tot vor einem Hotel in Amsterdam.

Milestones

Meine Geschichte ging weiter. Ich sah noch sehr viele namhafte Jazz- und Rockmusiker im Pumpwerk, entdeckte den E-Bass und später den Kontrabass für mich, gründete eine Band, strich im Streichorchester der Gymnasien Wilhelmshavens den Kontrabass und meinte das alles sehr ernst. Und hatte trotzdem meistens sehr viel Spaß dabei. Jazz interessierte mich, ich hörte viele Klassiker (stand inzwischen alles bei meinem Vater im Schrank), aber Bands wie die Talking Heads, The Who, Del Amitri und Lloyd Cole & The Commotions ließen mein Herz noch etwas höher schlagen.

Meine eigene Band war auf lokaler Ebene unerwartet erfolgreich, wir hatten sehr, sehr viele Auftritte in Stadt & Region und sehr, sehr viel Spaß dabei. Unsere Musik roch nicht mal ansatzweise nach Jazz; eine Zeit lang nannten wir unseren Sound ”Powerfolk”. Erstaunlich zutreffend, auch aus heutiger Perspektive.

Als ich mich also nach Abitur und Zivildienst Anfang der 90er nach einem Studienort umsah, der mir meine gewünschten Fächer bot und dabei nicht allzu weit weg von Wilhelmshaven war (die Auftritte gingen ja weiter), suchte ich mir Münster aus. Und war in meinen ersten Jahren dort tatsächlich auch einmal beim Jazz-Festival, es müsste 1993 gewesen sein.

Der Jazz begleitete mich also weiter, aber meistens nur als Fan und Hörer. Ich wollte ja nie Profi-Musiker werden, das war mir immer klar – wahrscheinlich, weil ich mich einfach nicht traute. Mein Leben bestand ja schon aus sehr viel Musik, und das dann auch als Lebensunterhalt zu machen, erschien mir wohl … einfach zu abenteuerlich, denke ich.

Und Abenteuer bot mir mein ”Irgendwas mit Medien”-Studium in Münster mit paralleler Band-Geschichte in Wilhelmshaven auch so schon genug. Vor allem lernte ich in dieser Zeit viele Menschen kennen, die mir bis heute sehr am Herzen liegen. Zu diesen gehörte damals auch Clau(dia).

Little Girl Blue

Clau und ich hatten Ende der 90er sogar mal eine kurzlebige gemeinsame Band, in der sie ein paar Stücke sang – auf der Hochzeit ihres Bruders 1999. Noch ein paar Jahre später spielte ich dann mit meiner münsterischen Outlaw-Country-Band BARN PAIN auf Claus Hochzeit im Sauerland. Dann verloren wir uns ein bisschen aus den Augen. Jetzt nochmal einen größeren Zeitsprung in die Gegenwart – und zu Claus Konzert-Einladung, die sie im Februar 2022 an mich schickte:

What??? Ich war (milde ausgedrückt) komplett überrascht – Clau singt in einer Jazz-Band? Ein Chet-Baker-Tributprogramm? Mit Patric Siewert am Bass??

Da ich mittlerweile meiner Gitarren- und Bass-Leidenschaft wieder in vollem Umfang nachging, hatte ich schon etliche Artikel über Patric gelesen, ein paar Videos gecheckt und ihn als einen der profiliertesten Jazz-E-Bassisten im Land abgespeichert.

Mein erstaunte Nachfrage ergab folgende Geschichte: Oliver Schroer ist nicht nur Jazz-Pianist, sondern auch Kirchenmusiker. Unter anderem in der Gemeinde in Bochum, in der Clau inzwischen Pastorin ist. Die beiden lernten sich näher und Clau dabei auch die Welt des Jazz kennen. Die beiden begannen, zusammen Musik zu machen. Die Idee zu einem Chet-Baker-Tributprogramm entstand. Die Einbeziehung von Patric Siewert ergab sich ganz natürlich, denn Oliver & er machen sowieso dauernd zusammen Musik. So ähnlich lief es, sehr kurz zusammengefasst.

How Long Has This Been Going On?

Ich ging dann natürlich zum Auftritt in Münster, was die erste Begegnung mit Clau seit vielen Jahren war. Das Konzert machte mir große Freude:

“A Tribute to Chet Baker” besteht sowohl aus rein instrumental gespielten Stücken als auch aus Stücken mit Gesang von Clau. Außerdem werden einige Texte vorgetragen, die Leben und Werk von Mr. Baker erzählen und illustrieren. Ich fand’s sehr gelungen, nicht nur musikalisch, auch konzeptionell. Eine kongeniale Würdigung einer der faszinierendsten (und auch tragischsten) Figuren der Jazzgeschichte. Und Matthias Beckmann an der Trompete fand genau den richtigen Ton dafür.

Über die brillant spielende Band war ich sowieso höchst erfreut. Alles Profis an ihren Instrumenten und vor allem so richtig durch und durch Jazzer. Ein Erlebnis. Was mich immer besonders beeindruckt, ist absolute Timing-Festigkeit auch ohne Drummer. Wenn ich für mich alleine spiele, muss ich mich oft sehr konzentrieren, um im Groove zu bleiben. Ich bin halt immer Band-Musiker im Bereich Rock/Pop/Folk/Blues/Country gewesen und habe dabei meistens einen kompetenten Schlagzeuger zur Seite gehabt, dessen Beat mich führte und mit dem ich zusammen grooven konnte (im besten Fall). Aber hier spielten alle ohne Schlagzeug oder sonstigen externen Beat zum ”Draufsetzen” immer absolut perfekt auf den Punkt zusammen – durch alle Breaks und rhythmischen Windungen hindurch. Geil.

Ich achtete natürlich vorrangig auf Patrics Bassspiel und war ziemlich hingerissen. Wahnsinns-Fretlesssound und perfekte Intonation, inspirierte Linien und wunderbar melodische Soli. Bei denen er oft, ganz der klassischer Jazzer, jede Note leise Mitsang:

Dobedobedobeee … dobedo!

Ähnlich kann man das in diesem Video von Patric hören:

Er spielt, wie man sieht (seht ihr doch, oder??), einen Worp von Bassline. Also aus der Schmiede, die mir die Teile für meinen Schraubbass gefertigt & geliefert hat. Schöner Zufall! Wir kamen nach dem Konzert auch noch ins Gespräch, das wir dann später beim Mittagessen mit der ganzen Band noch etwas vertiefen konnten. Ich erzählte dabei auch von meiner eigenen Baker-Begegnung in den 80ern in Wilhelmshaven.

Patric reihte sich außerdem nahtlos ein in die Reihe von äußerst sympathischen Profi-Bassisten, mit denen ich mich schon mal persönlich austauschen konnte. Und ein Selfie machen durfte. Bei bester Laune aller Beteiligten. 😉

Was für ein wundervolles Konzerterlebnis! Klar, ist jetzt schon ein paar Tage her (20. Februar 2022), aber dieses Jahr war mal wieder so viel los, dass Bloggen auf meiner To-Do-Liste etwas nach unten rutschte.

Doch es war eben ein besonderes Konzert. Was sich im weiteren Nachgang bestätigte. Denn ich berichtete natürlich meinem Vater von meinem Konzertbesuch. Und weil ich wusste, dass er sich damals oft Notizen zu Konzertbesuchen gemacht hat (z. B. mit Zetteln in LP- und CD-Covern), fragte ich ihn, ob er zufällig auch den genauen Termin des Chet-Baker-Konzerts im Pumpwerk irgendwo notiert habe.

Hatte er. Und schrieb zurück: ”Zufälle gibt’s. Es war der 20. Februar 1987.”

Also auf den Tag genau 35 Jahre vor dem Tribut-Konzert in Münster.

Um es mit der Reaktion von Clau zusammenzufassen, als ich ihr das berichtete: ”What?!?! Das ist wirklich unfassbar!!!“

Soweit also zu Zeit und Raum und den unvorhersehbaren Verwicklungen, Entwicklungen und Verbindungen, die sie schaffen.

Wobei: Eine Fußnote gibt’s noch dazu.

Time on My Hands

Denn am Wochenende darauf waren Freunde von uns zu Besuch bei uns, Andrea und Kai. Wir aßen zusammen & saßen schön beisammen und ich erzählte bei der Gelegenheit, dass ich gerade beim ersten Konzert nach langer Zeit gewesen war. Als ich dann kurz die Geschichte dahinter zusammenfasste und auch die (Vor-)Namen der Beteiligten nannte, runzelte Andrea die Stirn. Und fragte: ”Wie heißt denn dieser Oliver mit Nachnamen?”

Ja, genau: Sie kannte ihn. Sogar ganz gut. Die beiden waren rund 30 Jahre zuvor Teil der gleichen ”Clique”, wie man so schön sagte, in Oberhausen. Und Oliver war natürlich damals schon Jazz-begeisterter Pianist, was Andrea auf den Gedanken brachte: ”Moment: ein Oliver, Pianist, Jazz-Musiker, Großraum Oberhausen/Bochum, unsere Altersgruppe – den kenne ich doch!” 😉

Auch hier fasst die Reaktion von Clau, als ich über sie Grüße von Andrea an Oliver ausrichten ließ, die Sachlage sehr gut zusammen: ”Aber wirklich verrückt, oder? Diese Verzweigungen manchmal – unglaublich!”

Strollin‘

Dieser kleine Spaziergang durch Jazz, Zeit und Raum war eines der schöneren Erlebnisse 2022. Es gibt aber durchaus noch mehr zu schreiben – und ich sehe zu, dass ich das auch wieder etwas regelmäßiger mache. Also demnächst mehr an dieser Stelle. Über Musik, Bässe, Gitarren und das Leben – wie immer hier im Blog. Oder, wie Mr. Baker das vielleicht zusammenfassen würde: These Foolish Things.

Bis hoffentlich bald also – stay tuned!